In der Pole-Position
Dr. Gertrude Saxinger im Gespräch über das, was uns aus der Ferne nahegeht.
Mit im Gepäck waren meine Fragen rund um die Entwicklungen in der Arktis – auch darüber, was denn das alles hier mit uns zu tun hat. Und tatsächlich ist die Region nördlich des Polarkreises nicht bloß eine landschaftliche Idylle, sondern auch ein gefährdeter Lebensraum für Mensch und Tier – und auch wir haben leider einen Anteil an den dortigen Problemen.
Auch wenn Kollerschlag schon sehr nördlich ist, so ist es doch noch ein Stück vom Polarkreis entfernt. Wie entstand das Interesse an der Arktis?
Schon als Kind. Mein Papa hat in seinen jungen Jahren bei einem Amateurskirennen am Hochficht einen dicken bebilderten Atlas gewonnen. Den habe ich geliebt und besonders darin die Fotos von „Eskimos“ (wie sie damals genannt wurden; heute sagt man Inuit, wie sie sich selbst nennen) in ihren dicken Parkas mit der typischen Fellkapuze. Die wollte ich unbedingt kennenlernen.
Und was macht eigentlich dort eine Sozialanthropologin?
Anthropologie ist die Lehre vom Menschen, die sich mit den unterschiedlichsten Formen des Zusammenlebens als Gemeinschaften quer über den Globus beschäftigt. Das Besondere ist dabei, dass wir nicht Fragebögen austeilen, sondern oft jahrelang mit denselben Menschen und Gemeinden direkt vor Ort forschen, lange Gespräche führen und viel beobachten. So können wir viel über Frieden und Konflikte, Identitäten, Interessen von Politik, Wirtschaft und Bevölkerung sowie über Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auf der Welt lernen.
Wenn wir „Arktis” hören, denken wir heute oft gleich an den Klimawandel, warum?
Die menschengemachte Erderwärmung, die durch unseren weltweit rapiden angestiegenen CO2-Ausstoß verursacht ist, schreitet in der Arktis etwa viermal schneller als in temperierten Zonen voran. Die Arktis hat längst die 2.5 Grad der Erwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter überschritten. Während in den zentralen Regionen wie Europa noch darüber debattiert wird, wie man diesen Anstieg abwenden kann, ist der in der Arktis schon Realität.
Wie betrifft das die Menschen dort?
Zum Beispiel: Die Inuit leben an den nördlichsten Küsten rund um die Arktis. Sie ernähren sich von der Jagd nach Säugetieren an Land und im Meer. Die Eisflächen, auf denen sich die Jäger und Jägerinnen für die Robbenjagd platzieren, werden dünner und sind mittlerweile jedes Jahr anders. Man kann sich auf das Jahrtausende alte Wissen über die Schnee- und Eisbeschaffenheit, dass die Tradition von indigenen Kulturen prägt, nicht mehr unbedingt verlassen. Die Eisdecken werden zu gefährlich, um mit dem Schneemobil in die Jagdgegenden zu gelangen. Wirtschaftliche Einbußen, aber vor allem die Nahrungssicherheit ist sodann gefährdet. Zunehmend müssen schließlich sehr teuer importierte Lebensmittel auf den Tisch kommen. Der massive globale CO2-Ausstoß wird nicht in der Arktis produziert, die Menschen müssen aber die massiven Konsequenzen tragen. Ist das gerecht?
Was genau ist diesbezüglich unter dem „Grünen Kolonialismus” zu verstehen?
In den Zentren Europas und in den arktischen Staaten will man „grün“ werden. Wir wollen E-Autos fahren und klimaneutral leben. Dazu braucht es erneuerbare Energie, die irgendwo industriell gewonnen werden muss. Kolonialismus bedeutet in dem Zusammenhang, dass diese Energie aus Gebieten stammt, wo Bewohnerinnen und Bewohner nur wenige Mitspracherechte haben, wie diese Energiegewinnung ausgestaltet sein kann und ob sie dort überhaupt stattfinden soll. Das ist in den historisch kolonisierten Gebieten der Arktis ganz besonders relevant, da die Indigenen die Gebiete als ihr traditionelles Land ansehen, das ihnen schon einmal weggenommen wurde. In Norwegen, zum Beispiel, wird die Kultur der indigenen Sámi, die durch die Rentierwirtschaft geprägt ist, durch den neuen Fosen Windpark bedroht, der im Endausbau 300 Turbinen umfassen wird. Derzeit ist die Hälfte in Betrieb und schon jetzt betreten die Rentiere diese Zonen nicht mehr, da die Straßen zu den Turbinen, Geräusche und andere Einflüsse die Tiere beim Fressen stören. Der Oberste Gerichtshof in Oslo entschied 2021 sodann, dass der riesige Windpark auf der Halbinsel Fosen illegal errichtet wurde und eine Verletzung der verbrieften Rechte der indigenen Bevölkerung zur Ausübung ihrer Lebensweise darstellt. Die Menschen erinnern sich an die dramatischen Zeiten als sie kolonisiert und später zwangsassimiliert wurden. Daher ist es verständlich, wenn sie dieser neuen Landnahme im Gebiet der Sámi durch staatliche und private Unternehmen mit höchster Alarmbereitschaft gegenüberstehen. Das wäre neuer Kolonialismus mit einem grünen Mäntelchen, also „grüner Kolonialismus“.
Was könnte bei uns gemacht werden, um solche Entwicklungen zu verhindern?
Wir müssen uns einfach als Individuen und als Gesellschaft hier in Österreich und in Europa klar machen, dass auch die so wichtige „grüne Wende“ Verliererinnen und Verlierer mit sich bringt. Wir sollten uns daher dessen verstärkt bewusst sein, dass der Strom ja nicht einfach aus der Steckdose kommt, sondern wir, die Konsumentinnen und Konsumenten, auch Verantwortung tragen müssen, dass nicht andere Menschen die Rechnung für unser Grünwerden zahlen. Die Wirtschaft und die Politik sind hier genauso gefordert, denn Sonntagsreden alleine helfen niemandem. Dazu ist die Energiewende viel zu wichtig.
POLAR-TALK im MUSEUM
Fotos: © privat